Unser Denken nach Corona: Virtuell, verteilt und ökologisch

Kaum zwei Monate stehen zwischen dem „davor“ und „danach“. Die Corona-Krise hat unsere Arbeitswelt in einem Tempo verändert, das niemand für möglich gehalten hätte. Die viel beschworene digitale Transformation kann endlich stattfinden. Die Buchautorin und Beraterin Svenja Hofert beschreibt, wie sich das Denken jetzt ändert.

Unerwartete Ereignisse und ihre Auswirkungen

Krisen befeuern Entwicklungen, die sich schon länger gezeigt, aber versteckt haben. Durch ein unerwartetes Ereignis beschleunigt sich also, was vorher sichtbar war. Die Richtung, die eine Entwicklung nehmen wird, erkennt man oft, wenn man sich Menschen und Organisationen anschaut, die etwas ganz anders machen. Trends bauen sich langsam auf. Bis… ja bis, ein unerwartetes Ereignis eine Wende einleitet.

Was hat sich vorher gezeigt? Es gab immer mehr Digitalworker, die sich ein eigenes Online-Business aufgebaut hatten, und – Überraschung – davon leben konnten. Auch vor der Krise arbeiteten agile Unternehmen überwiegend und auch komplett remote. Schon vor der Krise verzichteten Menschen auf Reisen und auf Fleischkonsum. Oft waren das sehr junge Menschen, aber nicht nur.

Dezentral und regional, verteilte Führung statt von oben. Der Blick in die Glaskugel zeigte die künftige Arbeitswelt auch schon vor Corona virtueller, sinnstiftender und ressourcenschonender:

  • Mehr Kooperation: Menschen organisieren sich selbst und arbeiten co-kreativ zusammen.
  • Mehr Virtuell: Remote Work ermöglicht fern vom eigenen Wohnort für das Wunschunternehmen zu arbeiten. Homeoffice gibt ein Stück Freiraum zurück.
  • Mehr Sinn: Wertstiftende Arbeit ermöglicht es Menschen voller Freude Neues lernen.
  • Mehr Ökologie: Bei allen Zukunftsszenarien standen Nachhaltigkeit und der schonende Umgang mit den Ressourcen hoch im Kurs.


Krise als Chance zur Wende

Derzeit denkt nicht nur die Stadt Amsterdam darüber nach, die Krise als Möglichkeit zu nutzen, die Wirtschaft grundlegend nachhaltiger zu gestalten. Auch staatliche Subventionsprogramme werden an ökologische Kriterien gebunden, noch viel zu wenig, aber es passiert. Jetzt ist die Gelegenheit, auf allen Ebenen neu zu denken und Scheuklappen wegzulegen: Die Krise als Chance zur Wende.

Niemand wünscht sich Krisen. Wer seinen Job verliert, leidet. Rückblickend aber sind selbst Kündigungen Chancen, den bisherigen Lebensplan zu überdenken. Die Corona-Krise wird für viele Menschen einen schmerzhaften Wendepunkt bringen. Sie legt Ungerechtigkeit und Ungleichheit offen: Branchen sind getroffen, die vor der Krise gesund waren und keinen Digitalisierungsstau haben. Aber selbst die derzeit ungerechte Verteilung der Corona-Kollatoralschäden könnte zu einem Umdenken führen.



Mindshift in die Zukunft

Bilder von Umdenken und Veränderung waren auch schon vor der Corona-Krise für viele attraktiv. Mein Buch „Mindshift. Mach dich fit für die Arbeitswelt von morgen“ behandelt dieses Thema. Ich propagiere darin eine emotionale Flexibilität, die hilfreich ist, um Umbrüche wie die Digitalisierung eben als Chance zu begreifen und nicht als Bedrohung.

Im Unterschied zu Rigidität, die sich an der beharrlichen Veränderungsverweigerung und fehlender Neugier zeigt.

Bevor ich weiterschreibe, frage ich:

  • Wieviel hast du in den letzten Wochen dazu gelernt? Und wie viel davor?
  • Wieviel hast du in der letzten Zeit über Virologie gelernt? Und wie viel davor?
  • Wie oft nutzt du derzeit Videokonferenzchats und Kollaborationssoftware? Und wie oft davor?
  • Wie häufig bist du aus deiner Komfortzone getreten und hast etwas ganz anders gemacht? Und wie häufig davor?

Aha, viel mehr also als vorher! Und wieder mal zeigt sich:

  • Menschen verändern sich schnell, wenn sie müssen.
  • Menschen passen sich an, wenn sich Spielregeln verändern.
  • Menschen machen nach, was andere tun. Und sie gewöhnen sich an alles.

Und noch etwas: Menschen sind kooperativ. Sie stellen Bedürfnisse für andere zurück. Auch das offenbart sich vor allem in Krisen.



Homeoffice, neue Führung und Selbstorganisation

Deshalb wird vieles nach Corona bleiben, selbst wenn das Virus verschwindet. Homeoffice etwa wird sich weiter durchsetzen. Denn viele haben erfahren, dass dadurch die Produktivität keineswegs sinkt, sondern sogar steigen kann. Es könnte sein, dass das dazu führt, dass demnächst viele teure Gewerbeflächen leer stehen und künftig mehr Menschen aufs Land ziehen.

Mit dem Homeoffice wird sich die verteilte oder agile Führung weiter durchsetzen. Denn wenn ein Team über Distanz zusammenarbeiten will, muss es sich selbst organisieren. Es braucht dafür mehr Struktur als vor Ort – und viel mehr Bereitschaft, sich selbst zu führen. Gleichzeitig wird Vertrauen ungleich wichtiger, denn für virtuelle Kooperation ist Vertrauen essentiell.



Anderes Lernen, weniger Reisen

Das Lernen wird in Zukunft ebenso ein anderes sein. Auch hier hat sich nichts wirkliche Neues gezeigt. Nur das Tempo hat dramatisch zugenommen. Vor allem auch beim kreativen Lernen: Mittagessen per Zoom? Das ist ebenso neu wie Verkleiden hinterm Bildschirm oder der Videodreh zwischendurch. Waren die Menschen im März noch verkrampft im Umgang mit der neuen Technik, so gehen viele inzwischen ganz entspannt damit um. Wie wird es erst in einigen Monaten sein?

Es ist selbstverständlich geworden, an Online-Veranstaltungen aller Art teilzunehmen, von der Hauptversammlung bis zum Tagesworkshop. Auch die Entscheidungskultur wird sich verändern und mit ihr das Reisen. Wir müssen nicht mehr vor Ort sein, um uns zu besprechen. Wir werden jetzt auch noch lernen, direkter zu kommunizieren, mit der online beschränkten Körpersprache umgehen.

Vermutlich wird sich auch die Einstellung zum Leben dauerhaft ändern: Wir haben gemerkt, dass nichts sicher ist. Junge Menschen, die ihre Jobs wechselten wie die Shirts, weil sie so gefragt waren, merken jetzt die Grenzen der unendlichen Wahlfreiheit. Andere entdecken die Kraft der Gegenwart: Nur wer sich auf das Jetzt konzentriert, kann die Zukunft gestalten.