Free Seating: Trend oder Trash?

Ja, es stimmt: New-Work-Konzepte und kostenloses WLAN in hippen Cafés auf sämtlichen Kontinenten haben unsere Arbeitswelt revolutioniert und sich unseren flexiblen Lebenseinstellungen angepasst. Ein stabiler VPN-Zugang, volle Laptop-Akkus und wir surfen auf der Karriere-Welle, als gäbe es kein Morgen. Fest zugeteilte Schreibtische brauchen wir dafür längst nicht mehr. Trotzdem geben wir nicht gerne her, was uns aus unserer Sicht zusteht – erst recht nicht unsere hart erkämpften Fensterplätze im Großraumbüro. Warum trotzdem immer mehr Firmen auf das Konzept Free Seating setzen und welche Vorteile es für dich bietet, erfährst du hier.

Hot-Working? Hatten schon die Seefahrer drauf.

Abteilungsübergreifendes Arbeiten, kreativer Austausch und jede Menge Teamwork – Vorteile von Free Seating, die Unternehmen immer wieder betonen und die uns aus Diskussionen über Großraumbüros noch allzu vertraut vorkommen. Generation Freigeist sei eben nicht dazu gemacht, hinter tristen Papptrennern zu hocken – schon gar nicht, wenn sie täglich dazu gezwungen wird, „Outside the Box“ zu denken.

Klar ist aber auch: Es ist kein Geheimnis, dass Unternehmen durch diese Art von Ressourcenplanung vor allem auf Kosteneinsparungen abzielen. Teilen sich mehrere Arbeitnehmer einen Schreibtisch – der bei Einzelnutzung durch Außentermine, Krankenstand oder Urlaub häufig ungenutzt bliebe – schafft das Platz und Geld für andere Investitionen, zum Beispiel gemeinsame Aufenthaltsräume und Meeting-Lounges. Und dafür gibt man seinen Schreibtisch doch ganz gerne her, oder?

Zugegeben, was auf den ersten Blick wie eine bahnbrechende Innovation klingt, stammt eigentlich aus der Seefahrt und ist als „Hot-Bunking” bekannt. Mehrere Matrosen teilten sich bei ihrer Schichtarbeit eine Koje und wechselten sich zwischen Arbeiten und Schlafen ab. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde dieses Konzept als „Hot-Bed“ für Industriearbeiter übertragen, die sich ebenfalls einen Schlafplatz teilten. Doch anders als damals soll ein geteilter Schreibtisch nicht nur Mittel zum Zweck sein, sondern dem Wohl der eigenen Mitarbeiter dienen.[1,2]

„Die Mitarbeiter dürfen nicht einmal ein Bild aufhängen.“

Bei der Commerzbank am Standort in Frankfurt scheint das Konzept bereits aufzugehen – zumindest laut eigenem Management. Für je zehn Mitarbeiter stehen nur neun Arbeitsplätze zur Verfügung und es gilt: Wer zuerst kommt, kann sich die besten Plätze sichern. Damit Free Seating aber überhaupt funktionieren kann, müssen die Mitarbeiter alles, was sie morgens fein säuberlich auf ihrem Tisch ausgebreitet haben, abends wieder in ihren Spinden verstauen.[3]

Auch bei Google, Facebook, ADAC und Lufthansa verschwinden nach Feierabend alle Unterlagen und Habseligkeiten in Rollcontainern und machen Platz für New Work.[2] COO der Bawag Group Werner Rodax verrät im Interview mit dem Standard sogar: „Wir lassen keine individuellen Raumgestaltungen zu. Die Mitarbeiter dürfen nicht einmal ein Bild aufhängen, höchstens eines aufstellen. Pflanzen sind zwar erlaubt, aber Mitarbeiter müssen sich selbst darum kümmern. Unsere Regel ist: Der Mitarbeiter muss in der Lage sein, seine Sachen selbst umzusiedeln.“[4]

Let it go.

Und wenn du dir jetzt denkst: Ich habe es mir aber an meinem Schreibtisch so schön gemütlich gemacht – dann ist das vielleicht der springende Punkt, an dem du umdenken solltest. Denn auch wenn der eine oder die andere von uns nicht auf den eingerahmten Motivationsspruch, die Post-It-Kollektion oder diverse Stifteboxen verzichten kann, sollten wir Free Seating mal aus einer anderen Perspektive betrachten. Wir sollten aufhören, uns am Arbeitsplatz ein zweites Zuhause einzurichten. Warum?

Je mehr Bilder wir aufhängen, je gemütlicher wir es uns machen, desto eher sind wir bereit, auch viel Zeit im Büro zu verbringen und diesen Ort buchstäblich zu einem zweiten Zuhause zu machen – Häkeldeckchen und Pantoffel inklusive (kein Witz, alles schon gehabt). Free Seating bietet uns die Möglichkeit unseren Arbeitsplatz als eine Umgebung zu betrachten, an dem wir einige Stunden konzentriert arbeiten und fokussiert bleiben können – an dem wir aber ganz sicher nicht übernachten wollen. Gleichzeitig zwingt uns das Aufbau-Abbau-Prinzip dazu, organisiert zu bleiben und unsere Zeit nicht für Organisations-Katastrophen zwischen leeren Kuli-Sammlungen und Krimskrams zu verschwenden. Marie Kondo wäre stolz!

Quellen:
[1] transformation-network.de
[2] netzpiloten.de
[3] faz.net
[4] derstandard.at

8. Oktober 2019