"Ein dickes Fell, Starrkopf und viel Disziplin" - über Frauen in der IT-Branche

In unserer Interviewserie „The future is…?“ gehen wir der Frage nach, wie Female Leaders die Arbeitswelt verändern und die Zukunft gestalten. Wie man sich mit und trotz Brüsten in einer der Männerdomänen schlechthin behauptet, in der IT-Branche durchstartet und gegen dumme Vorurteile ankommt, das hat uns eine Expertin verraten, die es wissen muss: Natalie Sontopski, vom Komplexlabor Digitale Kultur und Gründerin der Code Girls.

kununu: IT, die ewige Männerdomäne: Das zeigt sich zum Beispiel auch bei den großen Konzernen der Tech-Welt. So beläuft sich der Anteil weiblicher IT-Fachkräfte bei Arbeitgeber Apple auf nur 23 Prozent, bei Google sind es 20 Prozent und bei Facebook und Amazon sind nochmal weniger Kolleginnen beschäftigt. Natalie, was meinst du, warum arbeiten noch immer gravierend weniger Frauen im IT-Bereich?

Natalie Sontopski: Leider gibt es keine simple Erklärung. Vielmehr ist ein Zusammenspiel aus mehreren Faktoren für die mangelnde Repräsentation von Frauen in der IT verantwortlich: So ist es weniger wahrscheinlich, dass Mädchen bereits in der Schule mit Programmieren anfangen, weil Rollenvorbilder fehlen. Das führt wiederum dazu, dass weniger Frauen eine Informatik-Ausbildung oder ein solches Studium in Betracht ziehen. Von denjenigen, die ein Informatik-Studium beginnen, brechen einige wieder ab. Und von den wenigen Frauen, die dann tatsächlich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, verlassen viele den IT-Bereich aufgrund von Sexismus und toxischem Arbeitsklima. Interessant ist allerdings, dass der Frauenanteil in osteuropäischen oder asiatischen Ländern in der IT viel höher ist, denn ein Job in jener Branche ist oft eine der wenigen Chancen, finanzielle Sicherheit zu erlangen. In westlichen Industrieländern wie Deutschland, den USA oder Schweden ist der Frauenanteil dagegen konsequent sehr niedrig.

Was denkst du, wie viele Jahre wird es noch dauern, bis es in den Informatikstudiengängen endlich 50:50 gibt?

Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es jemals zu 50:50 kommen wird! Es gibt sehr wenige Disziplinen, in denen der Geschlechteranteil dermaßen ausgeglichen ist. Für eine solche Balance der Geschlechter wären grundlegende soziale und politische Umwälzungen notwendig, die bereits im Kindergarten ansetzen müssten, sowie ein allgemeines gesellschaftliches Umdenken über „männliche“ und „weibliche“ Berufe. Als Realistin würde ich mich schon freuen, wenn der Anteil von Informatikstudentinnen sich in den nächsten fünf Jahren wenigstens auf 35 Prozent erhöht. Das könnte dann zumindest ein Zeichen sein, dass Fördermaßnahmen und Aufklärungskampagnen rund um Code und Programmieren erfolgreich sind.

Informatikerinnen hätten angesichts des Fachkräftemangels auf dem Arbeitsmarkt gute Chancen, meint etwa der IT-Branchenverband BITKOM. Was sind weitere Gründe, warum diese Disziplin dringend weiblicher werden sollte?

Die wichtigsten Gründe, warum die Branche weiblicher werden sollte, sind Diversität, Partizipation und die Reduzierung von kognitiven Verzerrungen, sogenannter „human biases“. Kurz erklärt: Diversität sorgt dafür, dass unterschiedliche Perspektiven in die Entwicklung und das Engineering von Software, Plattformen und Apps einfließen, statt nur die von privilegierten weißen Männern. Partizipation braucht es, weil unsere Welt zunehmend eine digitale Welt ist und es darum wichtig wird, dass möglichst viele Bewohner und Bewohnerinnen die Möglichkeiten und das Handwerkszeug besitzen, ihre Stimme geltend und auf Missstände aufmerksam zu machen sowie Verbesserungen loszutreten. Und schlussendlich würde es endlich mehr weibliche Rollenvorbilder, Informatikstudentinnen, weibliche Engineers und Systemadministratorinnen und dadurch eine „Entzauberung“ von Technologie als rein männlicher Domäne geben.

Nach dem Gender Gap trifft IT-lerinnen auch der Gender Pay Gap: So verdient ein Mann im Bereich „Information und Kommunikation“ laut aktuellen destatis-Daten 32 Prozent mehr als seine Kolleginnen. Wie sollten Arbeitnehmerinnen reagieren, die von ungleicher Bezahlung erfahren?

Ich rate: Macht Vorgesetzte und Kolleginnen und Kollegen auf die Ungleichheit aufmerksam und werdet konkret! Fragt lautstark: Wie kann es sein, dass meine männlichen Kollegen K, D, und X mehr verdienen als ich und andere Frauen in gleicher Position? Sucht proaktiv Gespräche mit Kollegen, Vorgesetzten – und falls vorhanden auch mit dem Betriebsrat –, um Sensibilität für das Thema zu schaffen. Und natürlich das gleiche Gehalt einfordern und sich nicht mit Ausreden abspeisen lassen!

Wir erinnern uns nur allzu gut an den Text eines Google-Mitarbeiters, der eine Debatte um Sexismus in der Branche entfachte. Wie hartnäckig halten sich Vorurteile gegen Programmiererinnen?

Die Programmierer, die ich kenne, wünschen sich eigentlich alle mehr Frauen in der Branche und haben keine Vorurteile. Von manchen weiß ich auch, dass sie es doof finden, dass Kollegen sexistische Witze erzählen oder sich offen über programmierende Frauen lustig machen. Generell gilt: Die Vorurteile gegenüber Frauen ähneln denen, die in vielen Branchen vorherrschen. Frauen sind angeblich nicht so gut in ihrem Job wie Männer aufgrund von biologischen oder neurologischen Faktoren, Frauen wären nicht geeignet für verantwortungsvolle Positionen wegen Kinderwunsch und Familiengründung, Frauen hätten kein „natürliches“ Interesse am Thema wie männliche Kollegen oder Frauen könnten sich nicht so gut auf das Programmieren konzentrieren, weil sie zu sozial und kommunikativ sind und nicht gerne alleine vor dem Bildschirm sitzen. Von wegen!

In den gesellschaftlich vermittelten Geschlechterrollen ist Informatik meist männlich konnotiert. Es gibt da den Mark Zuckerberg, Charles P. Thacker und Bill Gates – ein Boys‘ Club. Welche IT-Ladies, die ebenso als Vorbilder taugen, sollten wir unbedingt kennen?

Historisches Vorbild ist für mich Hedy Lamarr. Die meisten kennen sie als Hollywood-Schauspielerin, was nur wenige wissen: Sie hat während des 2. Weltkrieges zusammen mit einem Freund die Frequenzsprungtechnik erfunden, welche die Grundlage für jegliche kabellose Kommunikation ist wie W-Lan oder Bluetooth. Sie ist sozusagen die Mutter des W-Lan. Und auch heute gibt es viele tolle Frauen: Zum Beispiele Simone Giertz, „Queen of shitty robots“, die die unglaublichsten Roboter konstruiert. Oder Linda Liukas –  sie hat die Veranstaltungsreihe „Rails Girls“ ins Leben gerufen, schreibt Kinderbücher zum Thema Programmieren. Aus Deutschland fällt mir zum Beispiel Katrin Reuter ein, CEO des FemTech Start-ups trackle oder Constanze Kurz, promovierte Informatikerin und ehrenamtliche Sprecherin des Chaos Computer Club e.V..

Kannst du uns von einer Frau berichten, die dich bei deinem Werdegang maßgeblich beeinflusst hat?

Maßgeblich beeinflusst hat mich auf jeden Fall Julia Hoffmann, mit der ich gemeinsam im Jahr 2012 die Code Girls gegründet habe. Ohne sie hätte ich einige Sprünge ins kalte Wasser nicht gewagt, weil ich mich alleine nicht getraut hätte. Als wir entdeckten, dass wir uns beide für Code interessieren und Programmieren lernen wollten, öffnete sich für mich eine neue Welt: Endlich hatte ich jemand weiblichen Geschlechts gefunden, mit dem ich über "Technikkrams" diskutieren konnte! Besonders in der Anfangszeit, als wir beide noch unsicher über unser Auftreten waren, empfand ich es außerdem als erleichternd, die Verantwortung für die „Code Girls“ mit jemanden teilen zu können. Bei Julia konnte ich mich ausheulen, wenn ich von Workshops enttäuscht war, an meinen Fähigkeiten zweifelte oder mich über einen doofen Kommentar aufregte – das war extrem wichtig für mich, um sich nicht unterkriegen zu lassen. Und ich habe von ihr auch gelernt, mich zurückzunehmen und nicht immer mit dem Kopf durch die Wand zu wollen. Danke, Juli!

Infografik natalie

Talking about Julia: Motiviert von den Erfolgsgeschichten junger Programmiererinnen hast du im Jahr 2012 und gemeinsam mit deiner Kollegin Julia die Code Girls gegründet. Warum war ein solches Netzwerk überfällig?

Wir haben die „Code Girls“ gegründet, weil wir nichts Vergleichbares kannten und einfach einen Rahmen schaffen wollten, in sich Gleichgesinnte treffen können, über Code, Robotik oder Programmiersprachen philosophieren und durch Workshops einen Einstieg in die fabelhafte Welt des Programmierens erhalten. Denn für Quereinsteigerinnen wie uns, die an der Schwelle zum Berufsleben standen, gab es offline keine ansprechenden Weiterbildungsangebote und erst recht keine Möglichkeit zum Austausch mit Frauen, die sich ebenfalls für das Programmieren begeisterten.

Was fasziniert euch am Programmieren?

Julia und ich sind beide Quereinsteigerinnen: Ich bin Soziologin und Julia hat Medienpädagogik studiert. Unsere Studiengänge waren recht theoretisch, es wurden vor allem Texte gelesen, analysiert und dann Hausarbeiten darüber geschrieben. Nachdem ich zum ersten Mal ein kleines Skript geschrieben hatte, dachte "Wow, ob es sich so anfühlt, ein Haus mit den eigenen Händen zu bauen?" Das mag übertrieben klingen, aber ich hatte wirklich das Gefühl, endlich etwas mit meinen eigenen Händen gebaut zu haben. Neben dem theorielästigen Studium war Programmieren lernen für mich ein willkommener Ausgleich. Es verlangte eine andere Herangehensweise als zum Beispiel die Soziologie und ich fand es toll, dass Programmierbefehle klar und eindeutig waren.

Tim Cook (CEO bei Apple) sagte einst, dass der niedrige Frauenanteil in der Branche eigenverschuldet sei. Man habe nicht genug getan, jungen Frauen zu zeigen, „dass es cool ist und viel Spaß machen kann” in dieser Branche zu arbeiten. Mit den „Code Girls“ setzt ihr genau hier an. Wie können junge Mädchen denn außerdem ermutigt werden, eine Karriere in technischen Berufen zu starten?

Ich glaube, das weibliche Rollenvorbilder helfen können. Sei es, indem die Sichtbarkeit von Frauen in technischen Berufen gestärkt wird durch Kampagnen und Fördermaßnahmen, sei es in Form von Mentorinnen, die jungen Mädchen helfen sich in dem Bereich weiterzuentwickeln oder sei es durch mehr Angebote, durch die junge Mädchen im technischen Bereich sichtbar gemacht werden. Wichtig ist meiner Meinung nach, solche Angebote mit der Lebenswelt von jungen Mädchen zu verbinden: Zum Beispiel einen Workshop, bei dem sie einen Sensor fürs Kinderzimmer bauen, der Eltern- oder Geschwisterbesuch ankündigt. Dort lernen sie könnten sie neben dem Umgang mit Hardware auch das Programmieren von Software lernen, aber in einem spielerischen Kontext, der ihnen Spaß macht.

Was denkst du, sind die wichtigsten Faktoren, um als Frau in einer männerdominierten Branche Erfolg zu haben?

Leider traurig, aber wahr: Eine privilegierte Herkunft in Form von ökonomischen oder sozialen Kapital hilft sicherlich enorm. Ebenfalls hilft es, wenn frau unterstützende männliche Mentoren oder Kollegen hat. Ansonsten sind die wichtigsten Faktoren ein dickes Fell, Starrkopf und viel Disziplin!

Welche Vorteile bringen gemischte Teams?

Diverse Teams bedeutet auch: diverse Perspektiven. Das bringt Vorteile, zum Beispiel bei der Reduzierung menschlicher kognitiver Verzerrungen im Bereich Machine Learning oder der Programmierung von Software. So berichtete ein Artikel in der New York Times, dass Gesichtserkennungssoftware beim Erkennen von weißen, männlichen Gesichtern nur eine Fehlerquote von 0,1 Prozent hatte, während sie bei der Erkennung von Frauengesichtern dunkler Hautfarbe um bis zu 35 Prozent daneben lag. Ein anderes prominentes Beispiel ist der Super-Gau bei der Google-Bildersuche: Suchte man nach Fotos weißer Menschen, wurden einem Fotografien von eben diesen angezeigt. Suchte man nach Fotos von Menschen mit schwarzer Hautfarbe, zeigte die Bildersuche Fotos von Gorillas an. In beiden Fällen liegt der Fehler nicht bei der Software, sondern den Menschen, die diese Software programmieren und manchmal vergessen über den eigenen Tellerrand zu schauen und andere Ethnien oder Geschlechter miteinzubeziehen. In diversen Teams kann dieses Risiko zumindest reduziert werden.

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Mehr Female Leadership: Was macht "weibliche" Führung aus und brauchen wir Quoten und Feiertage für Frauen? Wir haben bei Christiane Paßers, Vertriebsleitung der ZEIT Verlagsgruppe, nachgefragt.

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